Kapillarisierung ein vergessenes Trainingsprinzip?
 

Kapillarisierung ein vergessenes Trainingsprinzip?

Als ich in den 1970er Jahren in der DDR mein Abitur machte, war der Begriff „Bodybuilding“ dortzulande verpönt. Bodybuilding gab es im Westen, im deutschen Osten hingegen betrieb man „Kraftsport“. Welche Vielfalt sportlichen Tuns mit diesem Begriff zusammengefasst wurde, überschauten nur Insider. Vereinfacht gesagt waren „Kraftsportler“ einerseits Bodybuilder, die im Wettkampf zusätzlich Bankdrücken zu absolvieren hatten, oder Powerlifter, die nach dem Bankdrücken und Kniebeugen nicht zum Kreuzheben, sondern zur Körperbewertung in Grundstellung antraten, und sogenannte „Fernwettkämpfer“, deren Wettkämpfe für die Männer Klimmzüge, Dips am Barren, Schlusssprung und bis in die frühen 1980er Jahre auch Schlusssprung zu absolvieren hatten. Während Bodybuilding und Powerlifting ein Schattendasein führten, waren die Fernwettkämpfe überaus populär, über die Finalkämpfe berichtete in den 1980er Jahren regelmäßig die gesamte Bandbreite der ostdeutschen Massenmedien.
Da hatte man mit sparsamsten materiellen Mitteln einen Massensport aus der Taufe gehoben! Denn luxuriöse Sportstätten gab es nur für den von der Öffentlichkeit abgeschirmten Sportclubs. Reckstangen für Klimmzüge und Barren für Dips (im DDR-Deutsch „Beugestütze“ genannt) hingegen fanden sich in jeder Turnhalle, auf Waldsportplätzen oder dem Kinderspielplatz vor dem Haus. Hätte ich mir als bekennender und begeisterter „Kraftsportler“ erlaubt, die Teilnahme an den „Fernwettkämpfen“ zu verweigern – aus allen Ecken wäre der Spott gekommen, dass die „dicken Muskeln“ also doch nur Fassade sind, nichtsnutziger „Pudding“ zum Schaulaufen und Angeben! Und las man dann in einer auf Schleichwegen in den deutschen Osten geschmuggelten Bodybuilding-Gazette etwas über Muskelaufbautraining, dann waren dort immer Wiederholungszahlen von 8 bis 12 die Regel. Mit anderen Worten: Sätze mit 30, 40 oder gar noch mehr Wiederholungen, beim Training der Fernwettkämpfer übliche Praxis, erschienen zum Muskelaufbau als nutzlos, weil sie zu geringe Widerstände für einen „hypertrophiewirksamen Reiz“ lieferten.
Gut, liebe Muskelgemeinde, stellen wir uns einmal vor, wir wollten keine Muskeln vergrößern, sondern eine Stadt. Also bauen wir einfach ein Haus nach dem anderen an den Stadtrand an! Und weil Menschen ja in Häusern wohnen und nicht auf der Straße, lassen wir die Straßen einfach weg! Und die Abwasserschächte auch, dort wohnt ja auch keiner!
Natürlich gibt das Probleme! Im Wohngebiet ebenso wie im Skelettmuskel! Denn für die Hypertrophie eines Muskels müssen ebenso wie in einem auf Vergrößerung angelegten Wohngebiet ausreichend Ver- und Entsorgungswege angelegt sein – sprich Kapillaren.
Die Physiologie weiß inzwischen, dass diese Kapillaren in einem genügend bewegten Muskel regelrecht „aussprossen“ wie neue Zweige im Frühling. So zeigte eine histologische Untersuchung an Powerliftern, Gewichthebern und Bodybuildern, dass die Skelettmuskulatur von Bodybuildern eine Kapillardichte wie die von Nichtsportlern aufweist. Die Kapillardichte von Gewichthebern und Powerliftern hingegen ist GERINGER als die von Nichtsportlern, d.h. sie weisen weniger Kapillaren pro Quadratzentimeter Muskelquerschnittsfläche auf! Die Autoren mutmaßten, dass dieses Phänomen mit der höheren Wiederholungszahl beim Bodybuilding zu begründen sei, welche offenbar das Aussprossen neuer Gefäße stimuliere.
Neu ist das alles eigentlich nicht. Bereits in den 1980er Jahren wurde den in der DDR ehrenamtlichen tätigen „Kraftsport-Übungsleitern“ von hauptberuflichen Trainern wie Hans-Joachim Stellmacher im Rahmen von einwöchigen Lehrgängen z.B. im Ostseebad Rerik angeraten, zu Beginn eines jeden Trainingsjahres, gewöhnlich nach dem „Weihnachtsurlaub“, eine mindestens vier Wochen umfassende „Kapillarisierungsphase“ in den Jahres- bzw. Makrozyklus einzubauen, in der möglichst gar keine Hanteln angefasst, sondern nur Übungen mit dem eigenen Körpergewicht trainiert werden – sprich Klimmzüge, Dips, Liegestütze, Situps usw.
Natürlich geht es auch weniger rigoros. So könnte man beispielsweise am Ende einer Trainingseinheit für Brust und Trizeps einige Sätze Dips ohne Zusatzgewicht, aber mit Wiederholungszahlen im Bereich von 30 bis 50 oder mehr pro Satz einbauen und so die Entwicklung der Kapillardichte in der Brust-, Schulter- und Armmuskulatur stimulieren. Analog könnte man beim Training von Rücken, Beinen und Bizeps verfahren. Wer Schwierigkeiten hat, beim Klimmziehen Wiederholungszahlen über 20 pro Satz zu erreichen (wie z.B. der Verfasser), steckt beim Latzug entsprechend Gewicht ab, an der Beinpresse wählt man für zwei Beine ein Gewicht, das man sonst für ein Bein wählen würde usw. So kann man mit wenigen Sätzen in ausgewählten Übungen die gesamte Muskulatur zur Ausbildung neuer Kapillaren stimulieren und so die Ver- und Entsorgung der Muskulatur besser stimulieren als bei ausschließlicher Durchführung von Sätzen im Hypertrophiebereich.
Kraftsportanfänger profitieren von solchen „hochvolumigen Sätzen“ zudem auch, weil sich dabei die Bewegungskoordination besser schulen lässt, Gelenke, Sehnen und Bänder durch Stimulation des Stoffwechsels besser auf hohe Widerstände vorbereiten werden und die Angst vor „hohen Lasten“ abgebaut werden kann.

von Dr. Andreas Müller

13.05.2019